Made in New York, Portraits

Man fragt nie, was ein Buch sagen will, ob es nun Signifikat oder Signifikant ist; man soll in einem Buch nicht etwas verstehen, sondern vielmehr fragen, womit es funktioniert, in Verbindung mit was es Intensitäten eindringen lässt oder nicht, in welche Mannigfaltigkeiten es seine eigene einführt und verwandelt, mit welchen organlosen Körpern es seinen eigenen konvergieren lässt. Ein Buch existiert nur durch das und in dem, was ihm äußerlich ist.
Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus

Für Songül Boyraz erschliessen sich Orte durch die intensive Beobachtung und den Kontakt mit Menschen. Die Ausgangsposition des wechselseitigen Fremd-Seins lässt sie manche gesellschaftsspezifischen Gegebenheiten und Gewohnheiten als etwas aus dem Gefüge von globalen Kulturen Herausstechendes wahrnehmen, das ihr künstlerisches Interesse weckt. Das können Verhaltensweisen, Umgangsformen, traditionelle Rituale, Kleidung etc. sein, Dinge die kulturell und gesellschaftlich geprägt und codiert sind.

In der künstlerischen Umsetzung geht es Songül Boyraz nicht um ein Verstehen oder Erklären, sondern um die Sichtbarmachung ihrer Emotionen und ihres Blickes dem Beobachteten gegenüber, der durch seine „Fremdheit“ „Selbstverständliches“ anders sieht. Diese grundlegende Herangehenweise findet sich bei allen Arbeiten von Songül Boyraz („Schuhplattler“, 2000 (Installation mit Video von Schuhplattlern in Gosau/Oberösterreich), Video zum Thema Alltagsrassismus am Beispiel einer afrikanischen Frau in Wien, 2000; „Show 2001“, 2001 (Video mit Bauarbeitern beim Arbeiten und in der Umkleidekabine der Baustelle Gasometer in Wien); Installation in Turin zum Thema Gefängnis, 2002).

Während des sechs monatigen Aufenthaltes in New York 2003  fielen ihr vor allem die Offenheit im Umgang, sei es auf der Post oder auf der Straße, und die Vielfalt der individuellen Stylings abseits von Mainstream- und Designermode im Kontrast zu Wien auf. Daraus entwickelte sich ihr Projekt „New York Portreit“.  

Vier Menschen wählte Boyraz dafür aus unterschiedlichen Gründen aus: einen Künstler mit Elefantenmaske, eine Frau, die Yoga praktiziert, ein Fotomodell mit extravagantem Styling und eine schwangere Frau. Es entstehen Fotos der Menschen in ihrem privaten Umfeld. Man lernt sich kennen und verbringt vermehrt Zeit zusammen. Es entsteht die Idee, für die vier Menschen Kleidung zu entwerfen, die zeigt, wie die Künstlerin sie sieht. In gemeinsamen Gesprächen werden die Entwürfe diskutiert und auch adaptiert. Es kommt zu vier in der Fertigung sehr unterschiedlich aufwändigen Gewändern: einem T-Shirt mit Atelierspuren, einem Ledertop, einer Rock-Bluse-Kombination und einem Kleid.

Um die vier Menschen in den neuen Kleidern zu fotografieren, streift die Künstlerin durch die Stadt, um entsprechende Orte zu finden, die ebenfalls ihrem Bild der Vier entsprechen, die ihre Gefühle den vier Menschen gegenüber deutlich machen.

So entsteht die zweite Fotoserie. Die Menschen sind in Posen zu sehen, die mit dem für sie individuell ausgewählten Ort und ihrem Gewand ihr Bild abrunden.
Gudrun Ankele